Das Geheime Markusevangelium - Teil 3

Magie und Homosexualität

Magie und antikes Christentum - & Homosexualität?

Was hier folgt, sind die Vortäge und Kommentare alter christlicher Oberhäupter und Bibelwissenschaftler über Morton Smiths Entdeckung eines womöglich „geheimen Evangeliums“ von Markus in einer Bibliothek in Jerusalem vor ungefähr 50 Jahren.

Das Ziel dieses Artikels ist es, muslimischen Gelehrten sowie all jenen, die sich intensiv mit dem Islam befasst haben, die Möglichkeit zu geben, einen Einblick in die gegenwärtige Welt der Bibelgelehrten und der Bibelkritik zu gewinnen.

Der seltsame Fall des Geheimen Markusevangeliums: wie Morton Smiths Entdeckung eines verlorengegangen Briefes von Clemens von Alexandria einen Skandal in der Bibelwissenschaft auslöste.

 

Shawn Eyer

„Lieber Leser, bitte bei den Worten.. ‚Magie und antikes Christentum‘ nicht erschrecken. Das Christentum hat niemals den Anspruch erhoben unverfälscht zu sein. Es behauptete…wahr zu sein!“

Mit diesen Worten beruhigte Pierson Parker in der New York Times Book Review das gutgläubige amerikanische Volk, dass es sich wegen der neuesten Nachrichten aus der schleierhaften und geschraubten Welt der neutestamentlichen Wissenschaft keine Sorgen zu machen braucht. [1] Es war das Jahr 1975 und die Gelehrten der Bibelforschung sowie die öffentlichen Medien waren höchst erregt aufgrund der Entdeckung eines kleinen Manuskripts, das – gemäß der Reaktion mancher Leute  – anscheinend damit droht, die Apokalypse herbeizurufen. Ein neu veröffentlichtes Buch von Morton Smith, Professor der Columbia University, in dem eine Übersetzung und eine Interpretation des Fragmentes eines neu entdeckten Geheimen Markusevangeliums zu finden sind, stand im Mittelpunkt der Diskussionen.

 

Die Entdeckung: 1958-1960

Im Frühjahr 1958 wurde Smith, der damals gerade sein Theologie-Studium auf der Columbia University abgeschlossen hatte, angeboten, die Manuskriptbestände der Bibliothek des Klosters in Mar Saba, das 12 Meilen südlich von Jerusalem liegt, zu katalogisieren. Smith war bereits ein paar Jahre zuvor, als er durch den Großbrand des zweiten Weltkrieges in Jerusalem gestrandet war, Gast in diesem Kloster.

Smith überraschte, was er während seiner Beschäftigung in der Bibliothek fand. Er entdeckte zum Beispiel ein paar neue Scholien zu Sophokles und dutzend andere Manuskripte. [2] Trotz dieser Funde kam der angeschlagene Wissenschaftler bald zu der offenbar begründeten Schlussfolgerung: er würde in Mar Saba nichts von enormer Bedeutung finden. Seine Bedrücktheit verschwand augenblicklich an dem Tag, als er zum ersten Mal jenes Manuskript entschlüsselte, das von da an immer mit seinem Namen in Verbindung stehen würde:

[…]An einem Nachmittag, nahe dem Ende meines Aufenthaltes war ich in meiner Zelle und starrte ungläubig auf einen in winziger gekritzelter Schrift geschriebenen Text. […]Wenn dieser Text das ist, was er behauptet zu sein, dann habe ich einen bis dato unbekannten Text von einem Autor von erheblicher Bedeutung für die frühe Kirchengeschichte vor mir. [3]

Was Smith danach fotografierte, war ein drei Seiten langer handgeschriebener Nachtrag, der auf den letzten unbeschriebenen Seiten eines gedruckten Buches, Isaac Voss‘ 1646 Ausgabe der Epistolae Genuinae S. Ignatii Martyris, gekritzelt wurde. [4] Der Texte erwies sich als ein Brief von Clemens der Stromateis, d.h. Clemens von Alexandria, der Kirchenvater des zweiten Jh., der für sein neoplatonisch-christliches Weltbild bekannt war. Clemens schrieb „an Theodoros“ und gratulierte ihm zu dem Erfolg in seinem Streit mit den Karpokratianer, eine heterodoxe Sekte, über die nur wenig bekannt ist. Allem Anschein nach haben sich die Karpokratianer in ihrem Streit mit Theodorus auf das Markusevangelium berufen.

Clemens berichtet in seiner Antwort von einer neuen Geschichte über das Evangelium. Nach Petrus‘ Tod brachte Markus sein Originalevangelium nach Alexandria und schrieb ein „geistigeres Evangelium zum Gebrauch für jene, die eben vervollkommnet wurden“. Clemens sagte, dass diese Schrift in der alexandrinischen Kirche aufbewahrt wurde und nur jenen vorbehalten sei, die in die „großen Geheimnisse“ eingeweiht werden.

Der Ketzer Karpokrates schaffte es jedoch unter Anwendung hinterlistiger magischer Künste, in Besitz einer Abschrift zu gelangen und legte sie zu seinem eigenen Nutzen aus. Da diese Version des „geheimen“ oder „geheimnisvollen“ Evangeliums durch die „schamlosen Lügen“ beschmutzt wurde, ermahnt Clemens Theodorus selbst unter Eid zu verneinen, dass das Geheime Evangelium von Markus sei. „Nicht alles Wahre muß allen Menschen gesagt werden“, sagt er.

Theodorus stellte ihn zu bestimmten Textpassagen der speziellen karpokratianischen Fassung des Markusevangeliums Fragen und in seiner Antwort zitierte Clemens zwei Fragmente, von denen er behauptet, sie wurden von den Ketzern entstellt. Das erste Fragment des Geheimen Markusevangeliums gehört zwischen Markus 10.34 und 35 eingefügt und lautet:

"Und sie kamen nach Bethanien, und eine gewisse Frau, deren Bruder gestorben war, war dort. Und herzu kommend warf sie sich vor Jesus nieder und sagte zu ihm: ‚Sohn Davids, habe Erbarmen mit mir.‘ Aber die Jünger wiesen sie zurück. Und Jesus, der in Wut geriet, ging mit ihr in den Garten, wo das Grab war, und sogleich wurde ein lauter Schrei aus dem Grab gehört. Und näher tretend rollte Jesus den Stein vom Eingang des Grabes weg. Und sogleich ging er hinein, wo der Jüngling war, streckte seine Hand aus und zog ihn hoch, indem er dessen Hand ergriff. Aber der Jüngling, als er ihn ansah, liebte ihn und fing an, ihn anzuflehen, dass er bei ihm sein möge. Und sie gingen aus dem Grab heraus und kamen in das Haus des Jünglings, denn er war reich. Und nach sechs Tagen sagte ihm Jesus, was er tun solle, und am Abend kam der Jüngling zu ihm, ein leinenes Tuch über [seinem] nackten [Körper] tragend. Und er blieb diese Nacht bei ihm, denn Jesus lehrte ihn das Geheimnis des Reiches Gottes. Und von da erhob er sich und ging auf die andere Seite des Jordans zurück."

Das zweite Fragment des Geheimen Markus sollte in Markus 10.46 eingefügt werden. Diese Stelle war lange als Haken in der Erzählung bekannt, da es lautet: „Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern Jericho wieder verließ..“

„Und er kommt nach Jericho. Und die Schwester des Jünglings, den Jesus liebte, und seine Mutter und Salome waren dort, und Jesus empfing sie nicht.“ Eben als Clemens Theodorus die „wirkliche Interpretation“ dieser Verse enthüllen möchte, bricht der Text plötzlich ab und das ist leider die ganze Entdeckung Smiths.

Smith machte kurz in der Hebräischen Universität in Jerusalem halt und berichtete Gerschom Scholem von seiner Entdeckung. [5] Danach kehrte er nach Amerika zurück, wo er die Meinung seiner Mentoren Erwin Goodenough und Arthur Darby Nock einholte. „Weiß Gott, was du da gefunden hast“, war Goodenoughs Reaktion. [6] „Im fünften Jahrhundert haben sie sich alle möglichen Sachen zusammengereimt“, sagte Nock. „Aber ich finde es spannend.“ [7]

Bei dem jährlichen Treffen der Society of Biblical Literature, der weltweit größten bibelwissenschaftlichen Vereinigung, im Jahr 1960 gab Smith seine Entdeckung der Gemeinschaft der Bibelgelehrten bekannt, indem er eine Übersetzung des clementinischen Briefes präsentierte und zu einer offenen Diskussion einlud. Am nächsten Morgen erschien auf der Titelseite der New York Times ein gut geschriebener Bericht über seine Präsentation, mitsamt Foto des Mar Saba Klosters. [8] Im selben Jahr erschien in dem Journal Archaeology [9] und in dem Greek Orthodox Patriarchate Journal, Nea Sion [10] eine Liste der 75 Manuskripte, die Smith katalogisierte. Und Morton begann seine ein Jahrzehnt dauernden akribischen Untersuchungen nach dem wahren Wesen seiner Entdeckung.

 

Die Reaktionen (1973-1982)

Obwohl es im Grunde gar nichts Skandalöses an den apokryphen Textstücken des Geheimen Markus, weder inhaltlich noch hinsichtlich ihrer Hintergrundgeschichte, zu geben scheint, führte die Veröffentlichung der Texte an die Allgemeinheit dazu, dass sie sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft mehrheitlich zum Gegenstand des Spottes wurden. Smith schrieb zwei Bücher über seinen Fund: das erste ist eine umfangreiche und komplizierte wissenschaftliche Analyse „Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark“ und das zweite dünnere Buch „The Secret Gospel“ ist eine umstrittene und populärwissenschaftliche Darstellung der Fundgeschichte und der Schlüsse, die er aus dem Brief zog. Das erste Buch wurde 1966 an den Verlag Harvard University Press übergeben, aber erst viel später herausgegeben. [11] Smiths populärwissenschaftliche Abhandlung wurde im Sommer 1973 von dem Verlag Harper and Row veröffentlicht. Das war die Version, die die meisten Gelehrten zuerst in den Händen hielten. Was war darin so Schockierendes zu finden?

Smiths Analyse des Geheimen Markustextes – und in Folge des großteils der Literatur zum frühen Christentum – ermöglichten ihm ganz andere Sichtweisen. Da „Geheimer Markus“ von einer Wundergeschichte berichtet, musste er sich auf Material dieser Art konzentrieren. Smith arbeitete außerhalb der traditionellen Lehre der Bibelkritik, die jede Wundergeschichte sofort als mythische Erfindung der frühen christlichen Gemeinschaften abstempelt. [12] Anstatt sich die theologische Vernichtung der  Wunderüberlieferungen zum Ziel zu setzten, fragte Smith, inwieweit die Wundergeschichten in den Evangelien tatsächlich auf dem Handeln Jesu basieren, auf die gleiche Weise, wie die Wissenschaftler bei der Untersuchung der Worttradition vorgehen.  

Es war typisch, dass die kritischen Bibelgelehrten jede Art der historischen Argumentation für die Geschichten in denen Jesus als „Wundertäter“ dargestellt wird, ablehnen. Denn diese Erzählungen führen dazu, dass dem Übernatürlichen mehr Gewicht zukommt, während die Gelehrten hingegen versuchen, die Ursprünge der Bibel unter realistischen Bedingungen zu verstehen. Die moderne Kritik beschäftigt sich eher damit, die Gründe zu erforschen, warum eine frühe christliche Gemeinschaft Jesus als Wundertäter verstanden hat und infolge damit anfing, mythische Geschichten zu erfinden, die ihn in diesem Licht darstellen. Smiths Verständnis der Verwendung des Begriffes Gottes Reich in christlichen Schriften, mit seiner wohl bekannten Zweideutigkeit, dem endzeitlichen Charakter auf der einen Seite und dem gleichzeitig eindeutigen Bezug zu präsentischen oder bereits erfüllten Ereignissen auf der anderen Seite, brachte ihn zu der Schlussfolgerung, dass:

[Jesus] konnte seinen Anhängern Gottes Reich erfüllen, und zwar auf eine besondere Art, sodass sie nicht nur durch das bloße Erwartungsgefühl, oder durch den Glauben und den Gehorsam, oder durch eine andere Form von Rede, sondern wirklich selbst dort waren. [13]

Smith hielt es für die beste Erklärung  für das literarische und historische Beweismaterial, dass Jesus tatsächlich magische Taten vollführte – oder es beabsichtigte und es auch so verstanden wurde. Unter diesen Wundern war ein Taufritual, in dem er seinen Jüngern eine Vision des Himmelreiches „geben“ konnte. Dies geschah in Form einer Bewusstseinsänderung durch die „wiederholte Rezitation hypnotischer Gebete und Hymnen“, eine Technik, die in jüdischen mystischen Texten, in den Qumran-Schriftrollen, in griechischen Zauberpapyri und in spätchristlichen Praktiken, wie der byzantinischer Ritus, verbreitet ist. [14] Diese Ansicht steht stark im Wiederspruch mit der Mehrheitsmeinung der christlichen Gelehrsamkeit, die versucht jede Art von „Übernatürlichkeit“, die in Verbindung mit dem historischen Jesus steht, der eher als Prediger sozialer Themen und anzuwendender Moral verstanden wird…ein Sozialarbeiter nach dem Typus Elias, könnte man sagen, zu entfernen.

Morton Smith war nicht der Erste, der diese These aufstellte, noch kam ihr seine Neuinterpretation der christlichen Geschichte nahe. Daher stieß er mit der neuen Theorie, die 1973 in seinem populärwissenschaftlichen Buch zusammengefasst dargestellt wurde, auf ablehnende Haltung von beinahe allen Seiten:

[…]Von den verstreuten Andeutungen in den kanonischen Evangelien und dem geheimen Markusevangelium können wir uns ein Bild von der Taufe von Jesus, dem „Geheimnis des Reiches Gottes“ machen. Es war eine Wassertaufe, die Jesus bei ausgewählten Jüngern vollzog, einzeln und des Nachts. Der Jünger trug dabei ein leinenes Tuch über dem nackten Körper. Dieses Tuch wurde wahrscheinlich für die eigentliche Taufe, das Eintauchen ins Wasser, entfernt. Dieses Eintauchen war eine vorbereitende Reinigung. Danach wurde der Jünger durch unbekannte Zeremonien mit dem Geist von Jesus vereinigt. Eins mit Jesus, nahm er so durch Halluzination an dessen Aufstieg in den Himmel teil, er trat ins Reich Gottes ein und wurde dadurch von den Gesetzen der niederen Welt befreit. Freiheit vom Gesetz könnte die Vollendung der geistigen Vereinigung durch eine körperliche Vereinigung gewesen sein. Das geschah sicher in vielen Formen des gnostischen Christentums. Wie früh es begann, lässt sich nicht sagen. [15]

In einem Interview mit der New York Times kurz vor der Veröffentlichung seiner Bücher sagt Smith dankbar: „Gott sei Dank bin ich pragmatisiert.“ [16]

 

Die Inquisition: Fangen wir an

Die folgende Gegenreaktion ließ keinen Moment länger auf sich warten. Smith hatte die ungeschriebenen Gesetze, nach denen sich die meisten Bibelgelehrten richten nicht beachtet. Er behandelte die Evangelien so, als wären sie mehr in der Geschichte als in der Vorstellung der frühen Kirchen verankert. Er weigerte sich eine künstliche Grenze zwischen Heide und Christ, Magie und Mythologie zu beachten. Und er verbreitete seine Theorien nicht nur über obskure wissenschaftliche Zeitschriften von seinem Büro in der Columbia University aus; er gab sie der Welt in einfacher, verständlicher und allzu deutlicher Sprache. Es war also keine Zeit für die typische wissenschaftliche Methode der gründlich recherchierten, logischen Ablehnung. Die öffentliche Aufmerksamkeit hielt nicht lange an. Smith musste in Verruf gebracht werden, bevor schon zu viele Bibelgelehrte den Medien sagten, dass es vielleicht etwas Wahres an seinen Theorien geben könnte. Manche der schrillen Äußerungen bekannter Gelehrter sind rückblickend sehr amüsant:

Patrick Skehan: „…eine morbide Verkettung fantasievoller Vorstellungen…“ [17]

Joseph Fitzmyer: „…korrupte Popularisierung..“ [18] „…reichlich versehen mit Anspielungen und persönlicher Auslegung…“ [19]

Paul J. Achtmeier: „Charakteristisch schwimmen seine Argumente in Spekulationen.“ [20] „…ein a priori Prinzip der selektiven Leichtgläubigkeit…“ [21]

William Beardslee: „…völlig unbegründet…“ [22]

Pierson Parker: „…die vermeintlichen Parallelen sind weit hergeholt…“ [23]

Hans Conzelmann: „…Science Fiction..“ [24] „…Gehört nicht zur wissenschaftlichen ja nicht einmal zur diskutierbaren Literatur…“ [25]

Raymond Brown: „…Versuche, das Christentum zu entschleiern..“ [26]

Frederick Danker: „…in der gleichen Ecke mit Allegros Pilzfantasien und Eisler’s bunte Mischung anzuordnen.“ [27]

Helmut Merkel: „Wieder einmal wurde der neutestamentlichen Bibelwissenschaft der Krieg erklärt.“ [28]

 

Die Möglichkeit, dass die Taufe erotische Elemente beinhaltet haben könnte, ist für viele Gelehrte, die in ihrer Reaktion versuchten, Smiths Interpretation eine übertriebene Betonung auf die Homosexualität Jesu anzuhängen, undenkbar:

[…] Die Tatsache, dass der junge Mann zu Jesus kam und  nur „ein Leinentuch über seinen nackten Körper trug“ impliziert natürlich Gedankengänge, die Smith wagt, auszusprechen. [29] Einige der ersten Reaktionen auf Smiths Veröffentlichungen waren wegen der Haltung Smith, das Christentum zu entschleiern und wegen seinen unangenehmen Andeutungen auf die homosexuellen Praktiken, die Jesus mit seinen Jüngern ausgeübt haben soll, von Feindlichkeit gekennzeichnet. [30]

Viele andere führten den homoerotischen Aspekt Smiths Theorie als Hauptargument gegen seine gesamte Arbeit an. [31] Ein anderer Kritikpunkt, der vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet aussagekräftiger ist, ist Smiths ablehnende Haltung gegenüber den  von den Kritikern bevorzugten Methoden der Form- und Redaktionskritik. [32]

Zwei Gelehrte machten sich lächerlich, indem sie die ihres Erachtens zu umfangreiche Dokumentierung Smiths als eine List, um den Leser zu verwirren, kritisierten. [33]

Viele Gelehrte waren der Ansicht, dass das Geheime Markus Fragment ein Pastiche der vier Evangelien ist. Manche behaupteten sogar, dass das Fragment ein unbedeutendes Pseudoepigraf sei, weil der markanische Stil so leicht zu kopieren sei. [34]

Hinsichtlich Clemens‘ Äußerung, über das Gebot Initiationsriten durchzuführen, behaupteten manche Gelehrte einfach, dass die alexandrinischen Christen Wörter wie „Initiation“ und „Geheimnis“ in einem übertragenen Sinn verwendeten, und der Brief daher nicht authentisch sein kann. [35]

Schließlich gab es auch solche Reaktionen, die sicherlich ins Lächerliche gehen. Zwei Gelehrte warfen Smith vor, dass er das Geheime Markusevangelium keineswegs wirklich „entdeckt“ habe. Da der Brief lediglich zwei Fragmente davon beinhaltet, wurde Smith wegen des Untertitels seines Buches „Die Entdeckung und Interpretation des Geheimen Markusevangeliums“ als Lügner bezeichnet. [36] Am schlimmsten ist jedoch Danker, der behauptet, dass Smiths erstes, nicht-wissenschaftliches Buch nicht den griechischen Text beinhaltet. „Der Entwerfer des Buchdeckels hat mit dem Buchtitel und dem Namen des Herausgebers den nur zum Teil abgebildeten Clemensbrief verdeckt, als wäre er begeistert von Palimpsesten,“ und zu einem anderen Foto im Buch meinte er: „die Herausgeber geben einem keine Lupe, um ihn [den abgebildeten Text] zu lesen.“ [37] Das alles zeigt uns, dass nachdem er mit einem Kollegen den griechischen Text mit Akribie transkribiert hat, Smiths Transkription und Übersetzung  „im Wesentlichen korrekt“ ist. [38] Er verliert absichtlich kein Wort darüber, dass in Smiths Harvard Version große, leicht lesbare fotografische Abbildungen des originalen Manuskriptes zu finden sind, um Smith vorwerfen zu können, er würde sich „weigern…den [entdeckten] griechischen Text zu veröffentlichen“. [39]

Ein Kritiker, Fitzmeyer, fand es interessant, Morton Smiths Kahlköpfigkeit hervorzuheben. Welche Wichtigkeit wir auch immer der Haardichte eines Gelehrten beimessen, so scheint es, dass unvoreingenommene wissenschaftliche Kritik nicht möglich ist, wenn bestimmte Glaubenslehren – selbst bei aufgeklärten, liberalen Glaubensrichtungen – in Frage gestellt werden.

 

Ist die Tinte noch feucht? Die Frage einer Fälschung

Natürlich wird ein derart umstrittenes Dokument wie Geheimer Markus der Fälschung bezichtigt. Das ist auch genau das, was 1975 passierte, als Quentin Quesnell seinen längeren Bericht „The Mar Saba Clementine: A Question of Evidence“ in der Zeitschrift Catholic Biblical Quarterly veröffentlichte. In diesem Artikel werden zahlreiche Einwände gegen Smiths Umgang mit dem Dokument deutlich.

Zuallererst ist es das Fehlen des physischen Manuskriptes. Smith ließ das Manuskript 1958 in dem Turm in Mar Saba und arbeitete seither mit seiner Sammlung von Fotos. Quesnell betrachtet dies als eine Vernachlässigung Smiths seiner wissenschaftlichen Pflichten. [40] Vielleicht müssen diese Pflichten übernommen werden, um den Diebstahl der Schriften des Codex Sanaiticus und des Kodex Jung mit einzuschließen. Sogar Smiths Veröffentlichung der fotografischen Abbildungen des Manuskripts entspricht laut Quesnell nicht den Normen. Sie „zeigen nicht die Ränder und Kanten der Seiten“, sie „sind nur schwarz-weiß“, und in Quesnells Augen beschädigt durch „unzählige Diskrepanzen beim Abschatten, beim Falten und bei dem Stippen im Papier.“ [41]

Quesnell stellt alle Bemühungen Smiths, das Manuskript auf das 18. Jh. zu datieren in Frage. Obwohl Smith mehrere paleografische Experten um Rat fragte, ist Quesnell der Ansicht, dass diese Informationen verglichen mit einer chemischen Analyse der Tinte und einer „mikroskopischen Untersuchung der Schrift“ wertlos sind. [42]

Dann stellt er die „unvermeidbare Frage“ [43]: ist der Clemensbrief eine moderne Fälschung? Er führt an, dass Smith „von sich selbst eine Geschichte erzählt, die deutlich die Motivation erklärt, die einen ernsthaften Wissenschaftler in Versuchung bringen kann, selbst wenn dieser weit entfernt von derartigen verrückten Gedanken ist.“ [44] Mit der Betonung, dass Smith sehr daran interessiert war, wie Wissenschaflter es schaffen, die neu entdeckten Beweise ihrer zuvor vertretenen unantastbaren Ansichten anzupassen, [45] und dass Smith Wissenschaftler mit denen er während seiner wissenschaftlichen Abhandlung zusammenarbeitete, bat ihn regelmäßig über ihre Forschung zu informieren, [46] fragt Quesnell, ob es nicht möglich sein könnte, dass ein bestimmter moderner Fälscher, der nicht genannt werden soll, „sich dazu veranlasst fühlte, ein paar Beweise ‘zu fabrizieren‘ um ein kontrolliertes Experiment zu starten?“ [47]

Quesnell erhebt noch viele andere Einwände, unter anderem die Behauptung, dass die massenhafte Berichterstattung, die Smith in seinen Werken Clement of Alexandria and a Secret Gospel of Mark zur Geltung bringt, wirklich eine List ist, um den Leser abzulenken. „[…] Es ist schwer zu glauben, dass dieses Material ein ernsthafter Beitrag zu der wissenschaftlichen Untersuchung darstellen soll“, meint Quesnell. [48] Tatsächlich deutet er darauf hin, dass die Funktion wirklich die ist, „die Unklarheit zu verstärken.“ [49]

Quesnell war nicht der Meinung, dass die wissenschaftliche Diskussion „ernsthaft weiterlaufen“ kann bis all diese Punkte -- und mehr -- geklärt sind. [50]

Smiths Antwort auf die Fälschungsvorwürfe wurde in der folgenden Ausgabe der Zeitschrift Catholic Biblical Quarterly veröffentlicht. Er gab seinem Kritiker humorvoll den Rat: „Man sollte einen Text nicht für gefälscht halten nur weil einem dessen Inhalt nicht missfällt.“ [51]

„Ganz und gar nicht“, war die Quesnells Antwort. „Ich finde ihn ziemlich harmlos.“ [52]

Quesnells Argumente wurden noch 1983 von Per Beskow, der schrieb, dass Smith „nur mittelmäßige Fotos präsentieren konnte, die nicht einmal den ganzen Rand des Manuskripts zeigen“, aufgegriffen. [53] Während die fotografischen Abbildungen in der Harvard Ausgabe wegen dem Zurechtschneiden des Verlages nicht die Ränder zeigen, [54] sind Smiths Fotos woanders mitsamt den Seitenrändern gedruckt. Darüberhinaus, sind sie überaus scharf und können nicht als mittelmäßig bezeichnet werden.

 

Die Reaktion der Öffentlichkeit

Die religiöse Rechte war besonders verärgert über das neue Geheime Markusevangelium. Selbst ohne die magische Interpretation des frühen Christentums, die Smith in seinen beiden Büchern vertritt, bedeutet die Entdeckung eines weiteren apokryphen Evangeliums für die konservativen Theologen und Apologeten nur Probleme. Was an dem Geheimen Markus ließ seine Gegner die Blockade aufheben und in den evangelischen Medien darüber berichten? Da gab es die kurze Kritik von Ronald J. Sider in der Zeitschrift Christianity Today:

Unbegründet…äußerst spekulativ…durchlöchert von verantwortungslosen Schlussfolgerungen…höchst spekulativ…geht davon aus, dass Jesus nicht der fleischgewordene Gott durch den heiligen Geist sei…einfach absurd!...unakzeptabel…

höchst spekulativ…unzählige andere zu Grunde liegende Schwächen…höchst spekulativ…verantwortungslos…wird den gewissenhaften Leser nicht täuschen können. [55]

Von da an geht der evangelische Gelehrtenkreis mit dem Geheimen Markus so um, wie für gewöhnlich mit allen nicht kanonischen Texten umgegangen wurde: als wäre es ein seltsames, aber doch unwichtiges Dokument, das sollte man es ernst nehmen, dem seelischen Wohlbefinden schaden würde.

 

Geheimer Markus und Da Avabhasas Einweihung in die Ekstase

Das vielleicht seltsamste Kapitel in der langen Geschichte des Geheimen Markus ist seine Verwendung durch die Free Daist Communion, eine von dem in Amerika geborenen Guru Da Avabhasa (auch bekannt als Franklin Jones, Da Free John und Da Kalki) in Kalifornien gegründete östlich-religiöse Gruppierung. 1982 veröffentlichte der Verlag dieser Sekte The Dawn Horse Press Smiths Harper and Row Band mit einem neuen Vorwort von Elaine Pagels und einer hinzugefügten Nachschrift von Smith selbst.

1991 trat ich mit dem Herausgeber in Kontakt, um eine genaue Antwort auf die Frage nach dem Interesse an dem Geheimen Markus zu bekommen. Saniel Bonder, der offizielle Biograf von Da Avabhasa und Hauptsprecher der Gemeinschaft antwortete mir:

Herz-Meister Da Avabhasa ist Selbst ein großer Geistlicher „Überträger“ oder „Täufer“ von höchstem Rang. Dies ist der Grund für Sein Interesse an Smiths Geheimen Evangelium und dessen Veröffentlichung durch den Verlag The Dawn Horse Press. Was Smith in dem Fragment des Briefes von Clemens von Alexandria entdeckte, ist --für Herz-Meister Da – eine eindeutige, alte Bestätigung, dass auch Jesus ein Geisttäufer gewesen sei, der Jünger in der Nacht unter strenger Heiligkeit in den echten, spirituellen Yoga-Vorgang eingeweiht habe. Das ist der einzige Grund, warum Herz-Meister Da dermaßen an der Geschichte interessiert war. Zufällig lief Morton Smiths Vertrag mit seinem vorigen Verleger aus und er beauftragte  somit uns mit der Veröffentlichung des Buches. [56]

Da Smiths Interpretation des historischen Jesus mit den Praktiken der Da Free John Gemeinschaft im Groben übereinstimmt, war es dem Führer der Gemeinschaft ein Anliegen Smiths Theorie zu verbreiten. Es ist schwierig, festzustellen in welchem Ausmaß genau die Riten von Master Da und Jesus dem Magier einander gleichen. Manche Gemeinsamkeiten sind jedoch klar ersichtlich, wie es in Bonders offizieller Biografie von Meister Da erläutert wird:

Im Laufe der Jahre, in denen Herz-Meister Da lehrte, haben Seine Anhänger jede Form der emotionalen-sexuellen Ausdrucksmöglichkeit für sich entdeckt, dazu gehören: Promiskuität, Heterosexualität, Homosexualität, Monogamie, Polygamie, Polyandrie, und viele andere Zusammenstellungsformen zwischen intimen Partnern und zwischen Anhängergruppen in unserer Gemeinschaft. [57]

Die Parallelen zwischen der damaligen Daist Gemeinschaft und den freizügigen christlichen Ritualen, wie sie von Smith beschrieben werden, wurde durch die persönliche Beteiligung des geistlichen Führers in der umfassenden Erforschung der erogenischen Natur der Gruppe verstärkt. „Herz-Meister Da hielt sich niemals davon ab, an unseren Experimenten mit uns teilzunehmen…“ [58] George Feuerstein veröffentlichte ein Interview mit einem anonymen Anhänger von Meister Da, in dem er erzählte, dass der Meister während einer Feier seine Frau zu sich nahm, um ihn von seiner selbstgefälligen Eifersucht zu befreien. [59] Wie die Karpokratianer vor 1800 Jahren und die korinthischen Christen noch ein Jahrhundert zuvor, versuchten die Anhänger der Diast Gemeinschaft nicht durch das bloße Unterdrücken der natürlichen Triebe sondern durch direktes Ausleben dieser Triebe, mit ihren sexuellen Bedürfnissen ins Klare zu kommen und diese zu besiegen, um endgültig davon frei zu sein.

Viele Jahre lang war Da Avabhasa selbst von einem „innigen Kreis“ neun weiblicher Anhängerinnen umgeben, der sich 1986 nachdem die Gemeinschaft und der Meister selbst mit ihren Experimenten zu einem Ende gekommen sind, auflöste. [60] 1988 erklärte Da Avabhasa vier dieser ursprünglichen langzeit Anhängerinnen als seine „Kanyas“, dessen Bedeutung Saniel Bonder folgendermaßen erklärte:

Kanyadana ist ein alter, traditioneller Brauch in Indien, demzufolge ein keusches, junges Mädchen…einem Satguru entweder als Ehefrau, oder als Gefährtin oder einfach als persönliche Dienerin gegeben wird. Jede Kanya gibt sich Ihm auf eine ganz besondere Art und Weise hin…die unter Seinen Anhängern einzigartig ist. Sie dient dem Satguru Persönlich und zu jeder Zeit, durch diesen besonderen Umstand, empfängt sie zu jeder Zeit seine Persönlichen Anweisungen sowie seine Aufmerksamkeit und seinen Segen. [61]

Als kanyadana „kumari“, muss eine junge frau natürlich „rein“ sein – d.h. keusch und selbstlos in ihren Handlungen sowie Geistig Erweckt durch ihren Guru, sei sie nun abstinent oder yogisch-sexuell aktiv. [62]

Die Bildung des Da Avabhasa Gurukala Kanyadana Kumari Orden muss vor dem Hintergrund der sexuellen Experimente und Konflikte, die die Gemeinschaft des Meisters in den vorangegangenen 10 Jahren erlebt hatte, und im Lichte der zustimmenden Haltung gegenüber Sexualität der gesamten Daist Gemeinschaft gesehen werden. Das Geheime Evangelium stellte Jesus als den Ursprung der Ekstase und der Freizügigkeit dar und hat somit viel mit den kritischen Lehren des Meisters Da Avabhasa gemeinsam, die schon lange vor 1982, als The Dawn Press Smiths Buch neu veröffentlichte, vorhanden waren.  [63]

 

Der kulturelle Rand und Geheimer Markus

Gelegentlich findet man kurze Verweise zum Geheimen Markus in bekannter und weniger bekannter Literatur. Ein einfacher aber genauer Bericht der Entdeckung wurde 1982 in dem britischen Bestseller „The Holy Blood and the Holy Grail“  abgedruckt. Das Buch , das von drei Fernsehreportern verfasst wurde, berichtet über eine gegenwärtige französische Vereinigung, Prieuré de Sion [Bruderschaft vom Berg Zion], die die französische Monarchie wiederherstellen möchte um zu einer bestimmten Familie zu gelangen, deren Blutlinie anscheinend auf Jesus selbst zurückgeht. Im Zuge seiner Argumentation für diese Theorie, findet es der Autor passend Geheimen Markus zu zitieren, als Beispiel dafür, wie die frühe Kirche unerwünschte Teile ihrer Schrift veränderte. „Dieses fehlende Fragment war nicht verloren. Im Gegenteil es wurde offenbar absichtlich unterdrückt.“ [64]

Ein kurzer Verweis zum Geheimen Markus ist auch in Elizabeth Clare Prophets Buch über die sogenannten „verlorenen Jahre“ Jesus zu finden. Sie schreibt, dass Entdeckungen wie die des Geheimen Markus „stark dafür sprechen, das frühere Christen eine viel größere und umfangreichere Sammlung von Texten und Überlieferungen über das Leben Jesu gehabt hätten, als das, was wir heute in dem uns erhaltenen Neuen Testament vorfinden.“ [65]

Der Rest des Buches erörtert jedoch die Frage, ob Jesus in Indien Yoga gelernt haben könnte und hat wenig mit Geheimen Markus oder Jesus dem Magier zu tun.

 

[Weiterlesen bei Teil 4]

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