Vom tauben Mädchen zur hörenden Abiturientin – mit Hilfe Allahs

A s-Salamu Alaykum (Friede sei mit euch)

Am besten erzähle ich von Anfang an:

 

Im März 2011 sah ich zum ersten Mal im Video ein 6jähriges dunkelhaariges Mädchen, welches ihr erstes neues Cochlear-Implant bekam, und ihre Logopädin. Sie zeigte diesem Mädchen eine kleine, runde, rote Frucht und fragte, was das sei. „Kirsche“, rief ich zum Video, „das ist eine Kirsche!“, doch das Mädchen sah die Frucht genau an, gab ihrer Logopädin ein Zeichen, dass sie

es nicht weiß; sie konnte auch nicht sprechen.

Dieses Mädchen war ich...

 

Meine Abiturrede vom 4. Juni 2011:

 

Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren, sowie Mitabiturientinnen und Mitabiturienten.

Mein Name ist Yasemin und ich möchte Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen. Das Leben ist wie eine Reise im Zug. Man steigt oft ein und aus, es gibt Unfälle, bei manchen Aufenthalten angenehme Überraschungen und weniger angenehme.

Wenn wir geboren werden und in den Zug einsteigen, treffen wir Menschen, von denen wir glauben, dass sie uns während unserer ganzen Reise begleiten werden: unsere Eltern.

Im Herbst 1989 wurde ich in der Nähe von Stuttgart geboren. Meine Eltern gaben mir einen türkischen Namen, der auf Deutsch die Blume „Jasmin“ bedeutet. Meine Eltern bemerkten schnell, dass irgendwas nicht stimmte, da ich nicht mal Mama oder Papa sagen konnte. Der Arzt stellte meine Taubheit fest, sowie eine unheilbare Augenkrankheit. Doch Hörgeräte waren keine Lösung für mich. Mein Vater wurde auf das Cochlear-Implant-Zentrum in Freiburg aufmerksam.  Zu meinem Glück wurde mir 1996 ein CI implantiert und seit ich 7 Jahre alt bin, hörte ich immer mehr und lernte die erste Sprache Deutsch. Viele Jahre lang nach meiner CI-Operation übte mein Vater unglaublich viel mit mir; er zeigte mir die Welt, Natur, Tiere und brachte mir viele neue Wörter sowie Rechnen bei, als ob ich die ersten 7 verpassten Jahre innerhalb kürzester Zeit nachholen müsste. Deshalb habe ich auch kein Türkisch gelernt.

Baba, ich bin dir unendlich dankbar, weil du mich unterstützt hast, sodass ich von einem kleinen tauben Mädchen zu einer CI-hörenden Abiturientin geworden bin.

Auch meine Mutter ist eine sehr wichtige Person in meinem Leben. Sie hat von Anfang an immer an mich geglaubt, dass ich meine schwere Reise bewältigen werde. Besonders in der Gymnasialzeit hat sie mir immer wieder Mut gemacht, an mich zu glauben und mir Kraft und Geduld geschenkt für schwierige und stressige Momente. Danke für alles, Mama.

Irgendwann steigen andere Personen, die für uns sehr wichtig werden, in den Zug ein.

Nach einem guten Realschulabschluss, kam ich hierher nach Freiburg, um mein Abitur zu absolvieren. Nach meiner zweiten CI-Operation fragte man mich unsicher: „Glauben Sie, Sie schaffen das Abitur?“ Die Frage, die mir immer wieder gestellt wurde, beantwortete ich mit:

„Ich versuche mein Bestes, soweit ich kann!“

Es gibt immer wieder andere im Zug, die da und bereit sind,  denen zu helfen, die es brauchen.

In meinem Fall war Mandy meine große Hilfe, ohne sie hätte ich das Abitur nicht geschafft. Mandy, ich danke dir, dass du mir sehr viel geholfen hast, mein Wissen zu erweitern, meine Texte zu korrigieren, meine Verständnislücken zu ergänzen und schwierige Texte und Fremdwörter zu verstehen sowie für das gemeinsame Lernen auf das Abitur.

Auch Stephi hat mir wahnsinnig mit unserer Deutsch-Nachhilfe geholfen, die deutsche Sprache besser zu beherrschen und mein Wortschatz zu erweitern. Als Motivation haben wir uns damals in der V11 (Vorbereitungsjahr) ein Versprechen gegeben. Auf dieses Notizblatt haben wir drauf geschrieben: „ABITUR 2011. Haben wir unser Abitur gemeinsam geschafft, dann wird Yasemin an der Abifeier vor allen Leuten eine Rede halten! „Deutsch“ wird ihr Erfolg!“ Und hier stehe ich und halte meine Rede.

„Deutsch ist mein Erfolg!“Danke sehr, Stephi!

Danke auch an meine Mitbewohner und Mitabiturienten für eure Unterstützung, Begleitung, den Humor, das Zusammensein und natürlich eure liebevollen Sticheleien.

Eine lange Reise beinhaltet viele Herausforderungen, Träume, Fantasien, Hoffnungen und Abschiede…

Wir haben unsere Reise bis hin zum Abitur auf bestmöglicher Weise bewältigt.

Für mich waren auch meine Erzieherinnen in Haus 10 und im Personalwohnheim, sowie viele Lehrer wichtige Reisebegleiter. In der G11 sahen meine Noten nicht gut aus. Einige Lehrer rieten mir mal eine andere Schule anzuschauen oder mich eventuell zu bewerben.  Mir hat das wehgetan, denn ich wollte meinen Traum ungern aufgeben. Ich hätte mehr Motivation gebraucht.

Hier möchte ich mich bei Herrn Blattmann bedanken, da er nicht nur fleißige oder stinkfaule Kinder von Albert Einstein, sondern auch unsichere, aber ehrgeizige Kinder von Mr. Bean sehr gut motiviert hat, Ziele zu verfolgen.

Für mich ist es notwendig, nicht nur im Abitur zu bestehen, sondern im Leben. Die Gymnasialzeit hat mich in vielen Sachen bereichert.

Ich glaube, ich werde wehmütig sein, wenn ich aus diesem Zug aussteige und einen anderen nehmen werde. Die Trennung von einigen Freunden, die ich während der Reise traf, wird schmerzhaft sein.

Was mich glücklich machen wird, ist der Gedanke, dass ihr mir geholfen habt, mein Gepäck zu vermehren und wertvoller zu machen. Meine Mitabiturienten, unsere Reise hier ist am Ende, die Mühe hat sich gelohnt. Wir haben versucht, beim Aussteigen einen leeren Sitz zurückzulassen, der Sehnsucht und schöne Erinnerungen bei den Weiterreisenden hinterlässt.

Wir wünschen unseren Nachfolgern: Viel Erfolg bei eurem Abitur!

Meine Reise wird weitergehen, ich mache eine Ausbildung als medizinische Dokumentationsassistentin.

Ich bin überzeugt, dass ich trotz meinen Behinderungen, noch einige Reisestationen erreichen werde, auch wenn es für mich nicht immer einfach sein wird. Aber ich weiß, dass ich viele unterstützende Reisebegleiter haben werde.

Zum Schluss möchte ich nochmal auf die Frage:

„Glauben Sie, Sie schaffen Ihr Abitur?“

zurückkommen. Ich möchte jetzt meine Antwort ändern:

Als erstes, Ziel ist es, trotz meiner Schwäche zu kämpfen, dafür braucht man Ausdauer und Mut. Ich habe mein Bestes auf der schweren Reise bis hierher gegeben, denn „man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“ Ein Zitat von Hermann Hesse.    

Ich habe mein Abschlusszeugnis in der Tasche!

Ich wünsche allen eine GUTE REISE! Und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Mein schwerer Weg:

 

Schon etwa  nach meiner ersten Woche im Gymnasium war mein erster Gedanke: „Oh nein, das ist so schwer, ich glaube, ich schaffe das nie.“

Doch ich wollte nicht aufgeben. Ich hatte mich für den schweren Weg entschieden, ihn bis zum Ziel zu gehen und nicht sofort aufzugeben.

Denn ich war und bin überzeugt, dass ich trotz meiner Behinderung für eine bessere Zukunft kämpfen möchte.

Mein Vorbild, welches mich sehr fasziniert, ist intelligent, liebevoll, großzügig, tolerant, mutig, treu, ein Familienmensch, vertrauenswürdig, humorvoll, gerecht und geduldig. Auf meinem schweren Weg zum Abitur als Schwerhörige habe ich mir diese Person als Vorbild genommen.

Dieses Vorbild ist der Prophet Muhammed (saw). Ich liebe den Islam, weil er mein Leben erleichtert. Selbst sagt Allah im Koran 94:5 : „Mit dem Schweren kommt die Erleichterung.“

Neben Islam spielt eine Familie für mich sehr wichtige Rolle. Ohne Zusammenhalt, ohne die Unterstützung und die Aufmunterung meiner Eltern und ohne Liebe zu meinen Schwestern hätte ich das Abitur nicht geschafft.

 

Islam und meine Familie sind die wichtigsten Bausteine in meinem Leben.

 

Ich danke Allah, dass ich den Islam kennenlernen durfte. Ohne meine CIs hätte ich nicht die Fähigkeit, als ein tauber Mensch Islam kennenzulernen.

Ich danke Allah, dass Er mir eine gute Familie geschenkt hat, die immer für mich da ist und mich sehr viel unterstützt, da ich oft Hilfe benötige.

Ich danke Allah, dass Er mir das Vorbild des Propheten Muhammed gezeigt hat, sodass ich mit Geduld, Kraft, Ausdauer und Mut meinen schweren Weg bewältigen konnte.                            

Ich danke Allah vielmehr, dass ich meinen Wunsch erfüllen konnte, welchen ich 4 Jahre lang gekämpft habe. 

Möge Allah uns alle den geraden Weg begleiten und helfen, denn wir gehören Allah und zu Ihm kehren wir zurück.

 

 

 

 

 

 

 

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